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Rückblick: „Afghanistan – was tun?“ am 03.10. in der Ulme35

Bei der Gesprächsrunde am 03.10. in der Ulme35 ging es – wie der Titel verriet – um die Frage, wie aktuell denen geholfen werden kann, die noch in Afghanistan sind, die sich aktuell auf der Flucht oder schon in Deutschland befinden [...]

Bei der Gesprächsrunde am 03.10. in der Ulme35 ging es – wie der Titel verriet – um die Frage, wie aktuell denen geholfen werden kann, die noch in Afghanistan sind, die sich aktuell auf der Flucht oder schon in Deutschland befinden. Es diskutierten der Kulturhistoriker und Journalist Samad Sharif (www.gafca.org), Abas Moggadam vom Verein Integrationshelfer Meehr e. V. und seine Gästinnen (Farzaneh Hasani: Studentin aus Afghanistan, Shafigeh Hashemi von der Isare Noor Stiftung, Maryam Rochsar: Künstlerin),  Politikwissenschaftler und Sozialarbeiter Alexander Fröhlich vom Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte Afghanistan e.V. (www.patenschaftsnetzwerk.de) und Hauptmann Michael Gutzeit, der als Ausbilder ein Jahr in Afghanistan war. Außerdem berichtete Humeira Saadat-Samadi, journalistische Ortskraft aus Mazar-I-Sharif, mit Ihrem Mann und Tochter vor den Taliban nach Kabul geflohen und von dort Ende August mit Hilfe der Bundeswehr und Lufthansa über Taschkent und Frankfurt nach Berlin evakuiert. 

Der Journalist

Einführend erklärte der Journalist Samad Sharif, es gebe nun in Afghanistan eine fünfzigköpfige Regierungsführung der Taliban, in der keine Frauen und keine ethnischen und religiösen Minderheiten vertreten seien. Das Frauenministerium sei sogar ganz abgeschafft worden. Derzeit existierten kein funktionsfähiger Staat und keine Verwaltung. Auch das Wirtschafts- und Bankensystem sei größtenteils lahmgelegt und Mitarbeitende trauten sich nicht, zur Arbeit zu gehen. Laut Sharif existiere insgesamt wenig Vertrauen, denn die Taliban sei keine einheitliche Bewegung, sondern bestehe aus verschiedenen, miteinander konkurrierenden Gruppen, die kaum einen gemeinsamen Nenner aufwiesen. Bei der Regierungsbildung habe es Berichte über Schießereien gegeben. Die wahre Macht habe das Haqqani-Netzwerk, das in Moskau und Doha nicht vertreten gewesen und verantwortlich für viele Terroranschläge auf Zivilist:innen sei. Es gebe noch immer verschiedene multiethnische Widerstände, zum Beispiel in den Bergen und durch die Hazara.

Weiterblickend fasste Sharif zusammen, dass eine Hungersnot drohe und die Menschen in Afghanistan von einem Tag zum nächsten lebten, ohne große Hoffnung auf eine längerfristige Zukunft. Viele Menschen seien traumatisiert, Kinder könnten nicht mehr auf der Straße spielen und junge, studierte Akademiker:innen, die von Demokratie geträumt hätten, seien jetzt nutzlos und ohne Zukunft. Seiner Meinung nach haben die Taliban sich in den vergangenen Jahren nicht grundlegend weiterentwickelt, seien generell nicht moderater geworden. Die jetzige Generation in Afghanistan kenne keinen anderen Zustand als Krieg.

Die Betroffenen

Abas Moggadam vom Verein Integrationshelfer Meehr e. V. brachte drei Gästinnen mit: Farsane Hassani lebt seit einem Monat in Berlin und war in Afghanistan Politikwissenschaftsstudentin mit einem amerikanischen Stipendium. Auch vor der Machtübernahme habe es schon viele Anschläge gegeben, bei denen auch Freund:innen gestorben seien – sie hätten versucht, gegen die Taliban zu kämpfen. Frau Hassani berichtet, das Studium habe sich sehr verändert. Nicht nur gebe es Zensur an den Unis, sondern Frauen dürften inzwischen nicht weiterstudieren, sie dürften nach den Regeln der Taliban nicht mehr politisch oder gesellschaftlich aktiv sein. Die Studentin bat um Unterstützung und Beistand für afghanische Geflüchtete, insbesondere für Frauen.

Mariam Rochsar ist eine weitere, über Pakistan Geflüchtete, die ebenfalls mitdiskutierte. Sie stehe in Kontakt zu Musiker:innen und kenne viele Hazara in Pakistan. Frau Rochsar berichtete ebenfalls, dass die Menschen dort allein gelassen werden. Darüber, wie Hilfe aussehen könnte, war sie sich unsicher. 

Die Mitgründerin der afghanischen Frauenrechtsstiftung Isare Noor Shafigeh Hashemi erklärte, dass am Tag zuvor einer ihrer Kollegen getötet worden sei. Er habe mit der Regierung zusammengearbeitet. Die Lage sei sehr schwierig, der Verein höre immer wieder von Folterungen und erhalte täglich Hilferufe von Menschen, die glauben, dass er ihnen helfen könne. Doch benötigten sie selbst dringend Unterstützung, um den Betroffenen helfen zu können. 

Nun wurde die große Frage gestellt: Was lässt sich konkret tun, um zu helfen? 
Frau Hassanis Antwort darauf lautete: Es muss die Möglichkeit der Familienzusammenführung geben. Frau Hashemi hingegen meinte, es sei nicht möglich, alle Betroffenen nach Deutschland zu bringen. Ihrer Meinung nach müsse mit den Taliban verhandelt werden und Kompromisse gefunden werden, um alle zu schützen. Mariam Rochsar war überzeugt, dass die Taliban auf eine solche Weise nicht anerkannt werden dürfte, da Zwangsheiraten und viele weitere Dinge nicht akzeptabel seien. Es müsse stattdessen Druck auf die Taliban ausgeübt werden. Einige Stimmen aus dem Publikum waren der Ansicht, dass nicht nur mit der Taliban, sondern zudem auch mit Russland, China, Pakistan und dem Iran geredet werden müsse. Einige waren für ein Aufnahmeprogramm, meinten aber, dass das nur mit öffentlichem Druck erreichbar sei. Eine Person, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist und seit dem Sommer ständig versuche, Menschen zu helfen, die sich in Kabul verstecken, berichtet, die Hilfe scheitere am Bundesinnenministerium.

Das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte Afghanistan

Vom Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte Afghanistan sprachen Alexander Fröhlich, Politikwissenschaftler und Sozialarbeiter, der sich um Ortskräfte kümmert, und Hauptmann Michael Gutzeit, der ein Jahr als Ausbilder und Berater vor Ort war. Michael Gutzeit sagte, sein Einsatz sei nicht beendet, solange die Menschen, die mit ihm und anderen dort gearbeitet haben, in unmittelbarer Gefahr seien – deshalb sei er zum Patenschaftsnetzwerk gekommen. Der Verein setzt sich für alle Ortskräfte ein, also nicht nur für Soldat:innen, sondern auch für GIZ-Mitarbeitende und Personen, die für das Auswärtige Amt arbeiten. Auch Zivilist:innen arbeiten dort mit und versuchen, Ortskräfte in Afghanistan zu unterstützen. Er erzählte, dass 70 Prozent der ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr noch dort seien, weil die Bundesregierung keine transparenten Prozesse geschaffen habe. Die Bundesregierung müsse jetzt handeln, weil erteilte Visa in drei bis sechs Monaten verfielen – und doch gebe es keine genauen Informationen dazu, dass jetzt angeblich 200 Menschen pro Woche evakuiert werden sollen.

Der Verein sei relevant, weil jede:r Mitglied oder Pat:in werden kann – auch und gerade Menschen, die Dari, Paschtunisch und andere Sprachen sprechen. Die Übermittlung von Geld sei derzeit jedoch legal nicht möglich. Derzeit versuche das Patenschaftsnetzwerk, Musterklagen auf den Weg zu bringen, weil es politischen Druck brauche, um Menschen, die besonders gefährdet seien, aus dem Land zu bringen – denn die Taliban vergesse diese nicht.

Eine Ortskraft aus dem Publikum berichtete, sie sei nun hier, könne aber ihre Kinder nicht nachholen, die in Lebensgefahr schweben, und sie bekämen von niemandem Antworten dazu. Michael Gutzeit sprach daraufhin seit Mitgefühl aus, betonte aber auch, dass der Verein ebenfalls noch nach Antworten suche, so auch auf dieser Gesprächsveranstaltung. 

Die Ortskraft

Humeira Saadat-Samadi sagte abschließend, sie wolle denen helfen, die ihr vor Ort geholfen haben, nach Deutschland zu kommen - und dass sie Angst um ihre Familie, Verwandtschaft und Kolleg:innen habe, die sowohl in Afghanistan, wie auch in verschiedenen Ländern (insbesondere in Uzbekistan und Pakistan) teilweise noch immer in großer Gefahr oder persönlicher Not seien.

Was tun?

Dann wurde weiter über verschiedene konkrete Möglichkeiten der Hilfe diskutiert, die vorläufigen Ergebnisse sind auf den folgenden Bildern zu sehen:


Es kam außerdem zu Verabredungen zu weiteren (kleineren) Gesprächsrunden über politische Handlungsmöglichkeiten und Aktionen, bei denen es unter anderem um Unterstützungsleistungen durch den Integrationshelfer Meehr e.V., das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. und weitere Vereine, wie beispielsweise ZAkï e.V. und andere gehen soll.

In jedem Fall suchen wir weitere Interessierte, die an konkreten Themen – aber auch durch persönliche Patenschaften – mit uns weiter arbeiten möchten. Bitte melden bei amei.huelsen(at)interkulturanstalten.de.

Am 12.11.2021 von 17:00 – 19:00 Uhr gibt es die nächste Gesprächsrunde zum Thema.